Viel zu tun an ihrem Startwochenende hatten die studentischen Mitglieder von „Spaceflight Rocketry Gießen“: Noch am Startplatz musste an der Rakete gearbeitet werden.Die NASA, die ESA oder Elon Musk: Sie alle haben zahllose Feuerbälle am Himmel gesehen, bevor sie den Start von Raketen beherrschten. Gießener Studierende haben es im ersten Anlauf geschafft. Zwar ging es nur 880 Meter in die Höhe, etwa so hoch wie der Feldberg über dem Meeresspiegel thront. Doch die Ziele des Vereins „Spaceflight Rocketry Gießen“ wachsen mit dem Erfolg: Bald wollen sie gegen Teams aus ganz Europa antreten.

„Wir möchten vor allem etwas mehr Praxis in unseren Studiengang bringen“, sagt Julia Eff. Sie ist Studentin des gemeinsam von Technischer Hochschule Mittelhessen (THM) und Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) angebotenen Fachs „Physik und Technologie für Raumfahrtanwendungen“. Und sie ist Vorsitzende des SPROG abgekürzten Vereins, in dem sich Interessierte auch anderer Fachbereiche und -gebiete zusammenfinden. „Wir haben auch Mediziner oder Informatiker“, sagt Eff. Denn in der komplexen Thematik des Raketenbaus gibt es für jede Profession Aufgaben.

So hat es von der Idee bis zum Start der ersten eigenen Rakete auf einem auf Studierenden- und Hobbyprojekte spezialisierten Platz bei Bremen nicht nur anderthalb Jahre gebraucht, sondern Expertise vom Maschinenbau über Physik bis hin zum Programmieren. Denn bis auf den zugekauften Treibstoff ist die „PIPE“ getaufte Rakete aus Glasfaserverbund und Epoxidharz komplett selbst gebaut. „Es ist beispielsweise gar nicht trivial, die Nase zu konstruieren“, erklärt Eff. Die sei nicht mit dem simplen Kreiskegel einer Silvesterrakete vergleichbar, sondern habe eine komplexe Form. „Wir haben sie, neben vielen weiteren Komponenten, im 3D-Druckzentrum der THM gedruckt“, sagt Eff.

Erfolgreicher Start: Die „PIPE“ der Gießener Studierenden erhob sich rund 880 Meter in die Höhe und landete dann sanft am selbstkonstruierten Fallschirm.Für ihren ersten Start hatte sich das rund 40-köpfige Team gleich mehrere Ziele gesetzt – zuvorderst natürlich den „Proof of Concept“, dass der eigene Entwurf flugfähig ist. Mindestens 500 Höhenmeter fehlerfreien Aufstiegs sollte „PIPE“ schaffen, zudem sollten die selbstprogrammierten Komponenten funktionieren. Insbesondere die Kommunikation und das selbsterdachte Fallschirmsystem waren den jungen Raketenbauern wichtig. „Die Rakete sollte ja in einem Stück wieder unten ankommen“, sagt Eff. Denn es stecken mehr als 5000 Euro in dem Prototyp, der überwiegende Teil aus dem Haushalt des Studierendenparlaments der JLU, Sponsorengelder und ein Zuschuss von der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt (DGLR). „Bei Zweifel am Erfolg wären wir lieber nicht geflogen.“

Und tatsächlich sagte das Team nach der Anreise in Fahrgemeinschaften den ersten von zwei Startslots am ersten August-Wochenende ab. „Wir hatten Probleme mit der Elektronik und dem Landesystem“, beschreibt Eff. Ein Transistor sei durchgebrannt, der Seilschneider als Teil des Fallschirmsystems defekt gewesen. Auch der zugekaufte Motor hat nicht gepasst, sodass einige Aufgaben vor dem Ausweichtermin am Sonntag zu bearbeiten waren. Mit 3D-Drucker, Ersatzteilen und Tüftlergeist wurden die Hardware-Probleme gelöst. Ein anderes stellten sich unvermittelt: „Eine Stunde vor dem Start hat uns der Veranstalter gesagt, dass er mit einer deutlich höheren als der geplanten Flughöhe rechne, weil der Motor stärker sei, als berechnet“, sagt Eff. Das sorgte für Hektik: Das Auslösen des Fallschirms sollte redundant über eine Zeit- und eine Luftdruckmessung erfolgen. Stiege die Rakete zu dem Zeitpunkt aber noch auf, flöge sie in ihren eigenen Schirm. „Wir haben also alles bis zum letzten Moment neu berechnet und eingestellt“, berichtet die Studentin.

Mit Erfolg. 880 Meter Höhe, ein perfektes Auslösen des Fallschirmsystems, eine weiche Landung – da war der Ausfall der kleinen wissenschaftlichen Nutzlast zu verschmerzen. „Das Projekt hat vielen Leuten die Augen geöffnet, wie sie ihr Studium weiter gestalten wollen: in Richtung Konstruktion oder Programmierung, Treibstoffsystem-Entwicklung oder Organisation und Planung“, zieht Eff ein Fazit. Ebenfalls wertvoll: das praktische wissenschaftliche Arbeiten. Eine Dokumentation des gesamten Prozesses schrieben die Studierenden, füllten Laborbücher. „Wir haben jeden Schritt und unser Learning daraus protokolliert.“

Mit diesem Wissen geht es jetzt an die nächste Rakete: Sie soll mehrere Stufen haben, bis zu 3000 Meter aufsteigen – und an Wettbewerben wie der European Rocketry Challenge (EuRoC) teilnehmen.