28. Praxisforum: Austausch mit Praktikern aus fünf führenden mittelhessischen Unternehmen zur Digitalen Transformation
„DIGITALE TRANSFORMATION: TATSÄCHLICHE CHANCE ODER LEIDLICHE HERAUSFORDERUNG“ – so lautete das Thema des 28. Praxisforums, zu dem der Förderkreis Studium und Wirtschaft e.V. des THM Fachbereichs Wirtschaft am 22. Januar 2025 an den Campus Gießen eingeladen hatte. Mehr als 50 Teilnehmer – Studierende, Praktiker, Professoren und Fachbereichsmitarbeiter – waren der Einladung gefolgt.
Die „Digitale Transformation“ wird u. a. als Wandel des gesamten Unternehmens definiert. Dies wird gerne mit der Metapher einer Metamorphose als anzustrebendes Ideal umschrieben, wie beispielsweise die Entwicklung einer Raupe zu einem Schmetterling. Allerdings wird die Digitale Transformation in der Praxis häufig nur in Form des Einsatzes neuer Technologien als punktuelle Akzeleratoren umgesetzt, die oftmals als Insellösungen funktionieren. Der Wandel des gesamten Unternehmens, im Sinne einer Metamorphose, ist daher nicht trivial. Die Referenten des Praxisforums beleuchteten ausgewählte Ursachen für diese Konstellation. Dabei standen aktuelle Erkenntnisse aus Mittelhessen zur Digitalen Transformation aus Forschung, Unternehmensberatung, Softwareentwicklung und betrieblichem Tagesgeschäft im Fokus.
Prof. Dr. Christian Leyh (Professur für Allg. BWL mit Schwerpunkt ERP-Systeme und Business Analytics am THM Fachbereich Wirtschaft) legte mit seinem Vortrag „Blickpunkt Mittelstand - Chancen, Hemmnisse und Erfolgsfaktoren der Digitalen Transformation” die inhaltliche Grundlage der Tagungsagenda. Herr Prof. Leyh verdeutlichte dabei eindrucksvoll, dass für Unternehmen ein tiefgreifendes Verständnis der Digitalen Transformation im Allgemeinen und der digitalen Innovationen sowie der IT im Besonderen in der heutigen Zeit mehr denn je unerlässlich sind. Die Fähigkeit, digitale Trends frühzeitig zu erkennen und gezielt in die Unternehmensstrategie zu integrieren, ist entscheidend für den zukünftigen Erfolg. Dabei zeigte er anhand einer Studie, an der mehr als 200 mittelständische Unternehmen teilnahmen, dass sich Unternehmen bei der Einschätzung des eigenen Digitalisierungsstands oftmals überschätzen und somit von einem falschen Ausgangspunkt für die eigene Digitale Transformation ausgehen. Um die korrekte Einschätzung zu unterstützen, stellte Prof. Leyh zum Ende seines Vortrags mit „DigiTAMM (Digital Transformation Assessment Maturity Model)“ ein am THM Fachbereich Wirtschaft entwickeltes Reifegradmodell vor. Mit DigiTAMM wird Unternehmen ein systematischer und gut verständlicher Ansatz geboten, sich in verschiedenen Kategorien (Produkte, Produktion, IT-Organisation & Prozesse, Mitarbeiter, IT-Sicherheit) hinsichtlich des jeweiligen Digitalisierungsstands einzuschätzen. Dadurch wird den Unternehmen eine Möglichkeit geboten, strukturiert die weiteren Schritte bezogen auf die eigene Digitale Transformation zu erkennen, zu planen und umzusetzen.
Anschließend informierte Thomas Winzer, Gründer und CEO der INOSOFT AG mit Sitz in Marburg über aktuelle “Digitalisierungstrends”. Dieses Thema liegt in der DNA des Unternehmens, das sich seit 1993 branchenübergreifend auf die Entwicklung von Individualsoftware sowie IT- und Unternehmensberatung spezialisiert hat. Herrn Winzer gelang es sehr plastisch, die sich enorm verkürzenden Innovationszyklen des Digital Business zu verdeutlichen. Aus den vorgestellten Praxisbeispielen stach dabei das Gemeinschaftsprojekt “DokPro” mit dem Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin am Universitätsklinikum Gießen/ Marburg hervor. Dabei handelt es sich um eine modulare KI-Plattform, die unter anderem bei der Ersteinschätzung von Krankheitsbildern in der Notaufnahme unterstützen soll. Das Zusammenspiel von naturgetreu animierten Avataren, medizinischem Know-How, bis hin zur elektronischen Patientenakte im Abgleich mit dem akuten Krankheitsbild des Patienten wurde anschaulich demonstriert.
Das Thema fortschreitende Digitalisierung im betrieblichen Daten- und Prozessmanagement griff im Folgenden Marc Naumann, Bereichsleiter der ORDAT GmbH & Co. KG, in seinem Vortrag zum „Smart Enterprise-Resource-Planning (ERP)” auf. ORDAT ist ein ERP-System-Pionier mit Sitz in Gießen, wo das Unternehmen 1970 gegründet wurde. Herr Naumann gab einen umfassenden Überblick über die aktuelle Generation der ERP-Systeme. Durch gezielten Einsatz von KI zur autonomen Analyse von Bewegungsdaten und anschließender Deduktion von Entscheidungshilfen wird die operative Steuerung der Wertschöpfungskette eines Unternehmens optimiert. So können z. B. aus den identifizierten Abweichungen zwischen geplanten und realisierten Verladeterminen in der Transportlogistik die Konsequenzen für die sich anschließenden Stationen und Prozesse in der Lieferkette prognostiziert und wichtige Entscheidungshilfen für Gegenmaßnahmen abgeleitet werden.
Nach diesen beiden interdisziplinär, generalistisch ausgerichteten Praktiker-Präsentationen eröffnete Christian Dräger, Head of Applicationcenter Smart Factory Central IT der Schunk Dienstleistungs GmbH, Heuchelheim die Praxisvorträge mit funktionsspezifischem bzw. operativen Praxis-Schwerpunkt. Entgegen den Erwartungen der vermutlich meisten Zuhörer, die mit einem produktionsorientierten Bericht über die Digitale Transformation bei einem globalen Player für die Herstellung von Werkstoffen sowie Maschinen- und Anlagen rechneten, lag der Fokus auf dem „ ... Menschen in der VUCA-Welt“. Herr Dräger, der sich selbst als „Sozio-Technologen“ bezeichnet, ließ das Auditorium an seiner mehr als 20-jährigen Expertise teilhaben, was betriebliche Transformationen für die Mitarbeiter bedeuten. Eine seiner zentralen Botschaften lautete, dass eine Transformation, so auch die „digitale“, für die Beschäftigten zunächst den Verlust der Komfortzone bedeutet. Unsicherheiten überwiegen und beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit der Organisation. Sehr einprägsam verdeutliche er, dass sich die Investition in Zeit für fachliche und emotionale Qualifikation zu Beginn des Transformationsprozesses, um die Mitarbeiter in die Komfortzone zurückzubringen, auszahlt. Dies äußert sich insbesondere in der steigenden Zeitersparnis und Performance im fortschreitenden Transformationsprozess, die er mit ausgewählten Kennzahlen belegte.
Ein dazu kontrastierendes Bild zeichnete anschließend Frau Theresa Boucsein, Leitung Digital Team der Infrareal Holding GmbH & Co. KG mit Sitz in Marburg. Das Unternehmen betreibt u.a. mit der Tochtergesellschaft Pharmaserv GmbH den Pharma- und Life-Science-Standort Behringwerke in Marburg und übernimmt dabei u.a. die komplette Inbound-, Lager- und Outboundlogistik. Das Team um Frau Boucsein fungiert als digitaler Lotse und unterstützt dabei auch die Business Unit Logistik bei der Digitalen Transformation. Im Gegensatz zu Herrn Dräger schilderte Frau Boucsein in ihrem Vortrag “Herausforderungen der Digitalisierung in der Pharma Logistik”, dass sie die Beschäftigten eher als “Fans” der Digitalen Transformation erlebt. Diese könnten es kaum erwarten, mit innovativen digitalen Technologien die vielfältigen Herausforderungen der pharmazeutischen Lieferketten effizient zu erfüllen. Dazu gehört beispielsweise die lückenlose Warenrückverfolgbarkeit über den kompletten, globalen Wertschöpfungsprozess hinweg. Leider stellen sich die international heterogen gehandhabten, streng regulierten und vielfach noch manuell zu erfüllenden regulatorischen Anforderungen als “Bremsen” der Digitalen Transformation heraus.
Abschließend gelang es Herrn Peter Klett-Heymann, Director Business Operations der RMG Messtechnik GmbH aus Butzbach mit seinem Vortragsthema „Der Mittelstand und die kritische Infrastruktur - Die Herausforderung des vernetzten Arbeitens in einer abgeschotteten Welt” noch einen weiteren besonderen Akzent zu setzen. Das auf Mess- und Analysegeräte für bzw. von Gasen und zugehörige Software zur vollständigen Datensicherung und Auswertung spezialisierte Unternehmen arbeitet weltweit in Projekten der kritischen Infrastruktur und ist dementsprechend zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet. Somit stellte die COVID-19-Pandemie eine außerordentliche Herausforderung dar, da das Aufrechterhalten eines durch Hardcopies und höchst vertraulicher, persönlicher Kommunikation geprägten Geschäftsbetriebs plötzlich das Arbeiten unter Remote-Bedingungen und Einsatz digitaler Techniken erforderte. Herr Klett-Heymann zog durch seine anschaulichen Beispiele, wie RMG aus dieser Not eine Tugend machte, das Auditorium nochmals voll in seinen Bann.
Neben dem sehr freundschaftlichen und großzügigen Engagement der Referenten und den sich aktiv beteiligenden Teilnehmern gilt auch dem Fachbereichsteam um Astrid Fischer und Holger Schmitt besonderer Dank. Parallel zu ihrem laufenden Tagesgeschäft haben sie für das Praxisforum eine nahezu professionelle Kongress-Atmosphäre geschaffen.
Prof. Dr. Marcus Fuchs & Prof. Dr. Christian Leyh